Giostra del pitu

Tonco

Asti

Piemonte

Italia - Italy

Dieses Jahr

18.02.2024 (1. Fastensonntag = Invocavit / Quadragesima)

Nächstes Jahr

09.03.2025 (1. Fastensonntag = Invocavit / Quadragesima)

Turnus

jährlich

Festausübung

N
aktuell

Allg. Festbeschreibung

Geografie

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Ort

Tonco

Kreis

Asti

Region

Piemonte

Staat

Italia - Italy

Beschreibung

Das Turnier um den Truthahn (Giostra del pitu) bzw. das Fest des Truthahns (Festa del pitu) in Tonco ist trotz seiner Terminierung auf den ersten Fastensonntag ein Fastnachtsbrauch. Die Hauptbestandteile des Festes sind der Prozess gegen den Truthahn, seine Verurteilung zum Tode, sein Testament und schließlich seine Enthauptung beim Turnier. Hinzu kommen ein Umzug in historischen Kostümen (corteo storico) und der traditionelle Ballo del Brando (Schwerttanz).

Der Festablauf ist klar gegliedert: Auf einem Pferdekarren wird ein in einem Holzkäfig gefangener Truthahn (ital. tacchino, im Dialekt: pitu) vor ein Tribunal gefahren. Dieses ist auf der Piazza, dem Hauptplatz, eingerichtet und wird von Rittern mit Schwert und Schild bewacht. Auf dem Tribunal, das mit der Aufschrift "la legge è uguale per tutti" versehen ist, haben die Richter in Roben Platz genommen. Sie erheben mit wortreichen Reden Anklage gegen den Truthahn, der als öffentlicher Sündenbock fungiert und werfen ihm im lokalen Dialekt alle Unerfreulichkeiten vor, die sich im vergangenen Jahr in Tonco zugetragen haben. Dazu gehören insbesondere auch die aus der Sicht der Bevölkerung zu kritisierenden Entscheidungen der Obrigkeit.

Am Ende des ungleichen Prozesses wird der Truthahn zum Tode verurteilt, bittet aber, vertreten durch einen Fürsprecher, im Sinne eines letzten Wunsches sein Testament veröffentlichen zu dürfen. Dieses bietet eine erneute Möglichkeit satirischer Kritik: Jetzt werden nämlich aus der Sicht des Truthahns auf ironische Weise Persönlichkeiten des Ortes mit witzigen Reden aufs Korn genommen. So werden unter lautem Gelächter, Kommentaren der Menge und allerlei begleitenden Gesten die Fehlleistungen, Unzuglänglichkeiten oder auch Blamagen öffentlich angeprangert, die sich das Jahr über in Tonco zugetragen haben. Nachdem er sich auf diese Weise gerächt hat, überlässt der Truthahn jedem Stadtteil symbolisch einen bezeichnenden Teil seines Körpers, indem er seine jeweilige Entscheidung mit allerlei hintersinnigen und schlüpfrigen Kommentaren begründet.

Danach beginnt das Turnier zur Enthauptung des Truthahns. Hierfür wird nach heutigem Usus der lebende Truthahn gegen einen toten ausgetauscht. Dieser wird mit dem Kopf nach unten an einem über die Mitte des Platzes gespannten Seil aufgehängt. Weil dennoch Jahr für Jahr Tierschützer gegen das makabre Spektakel protestieren, steht in der kommunalen Website von Tonco (Stand 2006) bei der Schilderung des Festablaufs ausdrücklich im Fettdruck: "È importante ricordare che il Tacchino appeso sulla piazza non è quello portato in corteo che ritornerà a casa vivo e vegeto, ma una 'contrafigura' acquistata in macelleria - Es ist wichtig zu betonen, dass der auf dem Platz aufgehängte Truthahn nicht mit dem vor das Tribunal gestellten identisch ist, der gesund und quicklebendig in seinen Stall zurückkehrt. Vielmehr handelt es sich um eine 'Kontrafigur', die in der Metzgerei gekauft wurde." Beim Turnier galoppieren dann Vertreter der verschiedenen Stadtviertel zu Pferd unter dem aufgehängten toten Truthahn durch und versuchen ihm mit einer hölzernen Lanze den Kopf abzutrennen. Derjenige, dem dies gelingt, darf den Kopf als Trophäe behalten. Außerdem haben er und sein Stadtteil das Recht, den charakteristischen "Ballo del brando" (Schwerttanz) zu eröffnen, der von der bekannten Musikkapelle "La bersagliera" begleitet wird.

Den zentralen Teilen des Geschehens (Prozess, Verurteilung, Testament, Turnier) geht noch ein historischer Umzug (corteo storico) voraus, der an diejenige Persönlichkeit der Ortsgeschichte erinnert, die den Namen von Tonco weltweit bekannt gemacht hat: Gerardo da Tonco, Gründer des Johanniterordens in Jerusalem, später Souverän des Malteserordens. Der Umzug schließt sich mit dem Defilee der Vertreter der verschiedenen Stadtteile und hat die Funktion, die alten lokalen Traditionen wachzuhalten, unter denen der "ballo del Brando" am bedeutendsten ist.

Geschichte
Nach der lokalen Deutung handelt es sich bei der Giostra del Pitu um einen Fastnachtsbrauch von besonderer Ursprünglichkeit, der in dieser Form früher weit verbreitet gewesen sei. Die Sündenbockfunktion, die der Truthahn übernimmt, bot den unteren Sozialschichten einmal im Jahr Gelegenheit, die Obrigkeit öffentlich zu kritisieren. So eröffnete der Ritus um den Truthahn einfachen Leuten im ländlichen Raum für kurze Zeit die Illusion eines anderen Lebens, in dem kritische Kommunikationsformen mit den Feudalherren möglich waren, die es in der Alltagsrealität außerhalb der Fastnacht nicht gab. Die lokale Brauchdeutung verweist auf die ganz und gar christlichen Ursprünge der Fastnacht, auf den speziellen Brauch von Tonco als Purifikationsritual und darauf, dass die Giostra del pitu das Ende des Winters und im Zyklus der Jahreszeiten den Beginn des neuen Arbeitsjahres, die Wiederaufnahme der agrarischen Produktion markiert habe. Der Brauch sei ein archaisches Ausdrucksmittel der sozial Disziplinierten gegenüber den Eliten.

Die Existenz des Ballo del Brando wird erstmals in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts erwähnt, und zwar in einem Werk des provencalischen Autors Claude Brueys. Danach wurde der Tanz in einer Reihe anderer Tänze 1643 in Turin (Torino) anlässlich des Geburtstags der Königin Maria Christina aufgeführt.

Referenzen

Gianni Rizzoni u. a. (Hrsg.) : Tradizioni e feste poplari in Italia, Milano 1998.