Sankt-Stephans-Prozession

Budapest

Budapesti

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Magyarország - Hungary

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Ort

Budapest

Kreis

Budapesti

Region

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Staat

Magyarország - Hungary

Beschreibung


Der 20. August, das Fest des Hl. Königs Stephan (ca. 975-1038), ist der wichtigste Nationalfeiertag in Ungarn. Der Kult um Stephan wurde zum Symbol der tausendjährigen ungarischen Staatlichkeit, denn der erste christliche König hat für die ungarische Geschichte zugleich als Staatsgründer entscheidenden Einfluss ausgeübt.
Stephan, geboren als Sohn des Stammesfürsten Géza, wurde als Kind auf den Namen Vajk getauft. Durch seine Krönung im Jahre 1000 und durch die von Papst Sylvester II. erhaltene Krone ("Stephanskrone") schuf er für die Magyaren den Eintritt ins "Regnum Christianum", welches die christlichen westeuropäischen Völker umfasste. Dies wurde durch eine dynastische Verknüpfung, nämlich durch seine Heirat mit Gisela, der Schwester des späteren deutschen Kaisers Heinrich II., bekräftigt. Stephan baute nicht nur die wichtigsten kirchlichen Institutionen aus (gründete zwei Erzbistümer und acht Bistümer), sondern seiner Figur hat man schon im Mittelalter tiefe christliche Überzeugung und wundertätige Kraft zugeschrieben. "Dieser selige Stephanus war so fromm, daß Gott ihn zierte mit der Glorie manchen Wunders" steht in der Legenda aurea von Jacobus a Voragine (seit ca. 1263). Einem Brief von Abt Odilo von Cluny (vor 1038) entnehmen wir, dass die Frömmigkeit des Königs "beinahe durch die ganze Welt" verkündet worden sei. Zu seinem Porträt gehört nicht nur das harte Vorgehen gegenüber den heidnischen Aufständischen im Interesse einer Christianisierung des Landes, sondern auch das Leid über den Verlust seines bei einem Jagdunfall verunglückten Sohnes Imre / Emmerich (1031).
Die "Ermahnungen" an seinen Sohn Emmerich (Libellus de institutione morum, vor 1031) gehören zu den wichtigsten schriftlichen Überlieferungen von Stephans Werk und werden in Ungarn bis heute häufig als Beispiel für perspektivisches Denken und Toleranz zitiert: "Wie die Gäste (hospes) aus den verschiedensten Ländern und Provinzen kommen, so bringen sie auch die verschiedensten Sprachen und Sitten, die verschiedensten Erfahrungen und Waffen mit sich [...]. Ein Reich mit einer Sprache und denselben Sitten ist hinfällig und zerbrechlich. Deshalb befehle ich dir, mein Sohn, dass du sie (nämlich die Gäste und die Fremden) wohlwollend gedeihen läßt und in Ehren hältst, damit sie lieber mit dir leben als irgendwo anders wohnen." (Übers. aus dem Latein nach: Ungarndeutsches Archiv, S. 9.)

45 Jahre nach seinem Tod, im Jahre 1083 wurde Stephan auf die Initiative von König Ladislaus (1040-1095) heilig gesprochen. In der Stadt Székesfehérvár erfolgte die elevatio nach der von Bischof Hartvik geschriebenen Legende (um 1100) am 20. August: Man öffnete das Grab und sammelte die Gebeine in einen Silbertrog. Die Quellen verbinden die Ereignisse mit wundersamer Heilung von Kranken. Dieser legendär gewordene Akt der Kanonisierung dürfte der Anfang eines durch Jahrhunderte andauernden Stephanskultes sein. 1084 soll die durch einen Kleriker namens Merkur bereits vorher entwendete abgetrennte rechte Hand des Heiligen, die "Heilige Rechte" (ung. "szent jobb"), aufgefunden worden sein. Die Handreliquie des Königs, die bis heute unversehrt erhalten blieb, wird in der Stephansbasilika in Budapest aufbewahrt und ist seit ihrer Wiederauffindung im 18. Jh. Gegenstand eines neuen Kultes.

Das Fest des hl. Königs Stephan wird landesweit in jedem Ort Ungarns begangen, in zwei Orten kommen jedoch dem Fest durch Reliquien eine besondere Rolle zu: in Budapest durch die Prozession mit der Handreliquie und in Székesfehérvár, wo der König gekrönt und begraben wurde und wo mit seiner Kopfreliquie ebenfalls eine Prozession durchgeführt wird. In Budapest bildet Stephans Handreliquie den Mittelpunkt des Festes am 20. August: Sie wird auch in unserer Zeit alljährlich am 20. August öffentlich ausgestellt und im Rahmen einer Prozession umhergeführt. Dieses von religiösen Riten geprägte Kernprogramm des Festes, auf dessen Beschreibung wir uns hier beschränken, wird jedoch mit zahlreichen kulturellen Veranstaltungen und Folkloreprogrammen, die das hauptstädtische Staatsfest kennzeichnen, umrahmt.

Die Prozession in Budapest beginnt frühnachmittags vor der Stephansbasilika mit einer Messe, an der jedoch hochrangige Vertreter nichtkatholischer Religionen sowie der Regierung, wie z.B. der Präsident der Republik, teilnehmen. Während auf den Stühlen des Platzes vor der Kirche die Prominenz Platz nimmt, hören verschiedene Gruppierungen, die aus unterschiedlichsten Orten des Landes, teilw. auch aus dem Ausland kommen, der Messe stehend zu. Diese tragen meistens Ortsschilder mit sich, gelegentlich tragen sie auch Tracht. Verschiedene Delegationen von religiösen Institutionen, Schulen, Vereinen und Orden und nicht zuletzt Kinder(tracht)gruppen sind u.a. mit Fahnen und Ordenstracht gekennzeichnet. Ein wichtiges Moment in der feierlichen Messe ist, dass in der vom Erzbischof abgehaltenen Predigt der Staatsgründer als Beispiel für Toleranz und als Vorbild gewürdigt wird.
Anschließend beginnt der Umzug mit Vertretern verschiedener religiöser und politischer Gruppierungen, die ihre Fahnen und Vereinsinsignien hochhaltend mit sich tragen. Gegen Ende des Umzuges erscheint im kostbaren Reliquienschrein die Handreliquie - in Begleitung der offiziellen "Wächter der Hl. Rechten", in traditioneller ungarischer Adelsuniform gekleidet. Durch technisch modern ausgerüstetes Sicherheitspersonal strengstens bewacht wird sie im silber-goldenen Schrein von vier Männern auf den Schultern getragen. Am Straßenrand entlang der vollen Umzugsstrecke halten sich Zuschauer auf, die auf die Ankunft der Reliquie warten und sie schließlich mit Applaus begrüßen. Der Umzug wird mit Gesang hauptsächlich der Prozessionsteilnehmer, aber auch des zuschauenden Publikums begleitet, dabei werden alte Kirchenlieder über den Hl. Stephan angestimmt und mithilfe von durchwegs montierten Lautsprechern ausgestrahlt. Erst wenn die Reliquie wieder in ihre Kapelle in die Stephanskirche zurückgekehrt ist, endet die Prozession.

Was symbolisiert die "Heilige Rechte"? "Uralter Glaube ist es", so der ungarische Volkskundler Sándor Bálint, "dass die Könige Auserwählte der göttlichen Gnade sind, denen eine Macht zuteil wurde, über die kein anderer verfügt. In ihrer Person erschien das priesterliche, medizinische und königliche Charisma anfänglich vereint. [...] Nach einem archaischen Weltgefühl ist der König als Teil oder Träger der Göttlichkeit, durch einen in ihm verborgenen himmlischen Funke, fähig u.a. die bösen Dämonen zu vertreiben und die Kranken zu heilen. [...] Die magische Fertigkeit kommt vor allem durch die segnenden bzw. abschirmenden Bewegungen der Hand und der Finger zum Ausdruck". Die heilenden Hände sind Attribut eines Heiligen. Die Hand fungiert als "Werkzeug" zur Amtsausführung: "Die Handauflegung ist zum einen Zeichen der Segnung, zum anderen Ausdruck der Ordinierung" ("Enzyklopädie des Märchens"). Der Ausdruck "Heilige Rechte" hat im Ungarischen außerdem den besonderen Bedeutungsaspekt der Richtung rechts (ung. jobb/ra = dt. recht/s) wie auch das Komparativ von gut (ung. jobb = dt. besser) und ist seit dem Mittelalter Synonym zu "Recht" (ung. jog = dt. Recht, Jurisdiktion). Sie ist ein mit der Person des Königs eng verknüpftes Symbol. Im heutigen Prozessionsritual spielt die Handreliquie in ihrer Anschauungsrealität als unverweslicher, heute bereits tausendjähriger Körperteil, besonders aber im symbolischen Sinne, als Verkörperung der Kontinuität seines wichtigsten Werkes, der Staatsgründung, eine bedeutende Rolle. Die zu einer mythischen gewordene Figur des Königs steht zugleich, so Sándor Bálint, für den Übergang von der Welt der Paganen zu der der Christen, sie ist eine Verbindung zwischen der alten, heidnischen und der neuen europäischen, christlichen Welt. Durch einen historischen Doppelbezug, der das Eigene, Nationale zugleich mit dem Europäischen verbindet, war und ist König Stephan einer der wichtigsten symbolischen Figuren für Ungarns Bezug zu Europa.

Das Fest des Hl. Stephan blickt auf eine lange Tradition zurück. Der heilig gesprochene König wurde bereits im Mittelalter verehrt - und nicht nur in Ungarn, sondern europaweit. In Ungarn bekam der Stephanskult u.a. durch die Rekatholisierungspolitik der Habsburger einen besonderen Schub. Die im Barock auflebende (und propagierte) Heiligenverehrung und andere an ältere Traditionen anknüpfende Frömmigkeitsformen nahmen an Bedeutung zu. Maria Theresia war diejenige, die die "Heilige Rechte" aus Ragusa (Dubrovnik) zurück nach Ungarn bringen ließ. Seit der feierlichen Unterbringung der Reliquie 1771 in der Burg in Buda begann ihre kultische Verehrung. Als Palatin Josef 1819 die Regeln der Prozession festlegte, schrieb er die verbindliche Teilnahme am Fest der Obrigkeit, städtischen Magistraten, Abgeordneten, Soldaten, Zünfte und Studenten vor.
Doch der Stephanstag erhielt nach der Niederlage Napoleons bald einen ungarisch-nationalen Charakter, sodass die Prozession nach dem Unabhängigkeitskrieg von 1849 von den österreichischen Behörden zunächst einmal für ein paar Jahre sogar verboten wurde. Nach 1867 ("Ausgleich") begann sich die Prozession zu einer festlichen Massenzusammenkunft mit komplexen Bezügen zu Religion, Politik und Ethnizität zu entwickeln. 1938 wurde ein Gesetz "über die Verewigung des ehrenvollen Andenkens" verabschiedet. In diesem besonderen Jahr, dem Jubiläum zum 900. Todestag Stephans, wurde die Reliquie sogar in einem Sonderzug in verschiedene Städte Ungarns transportiert. Doch im Jahre 1948 hieß das Fest nicht mehr "Sankt Stephan-Fest", sondern bereits das "Fest des neuen Brotes" und eine Genehmigung für eine Prozession wurde seitens der kommunistischen Diktatur nicht mehr erteilt. Der Festtag wurde weitgehend entsakralisiert und durch Verlagerung der Symbole (Brot, Boden) in ein neues staatlich gesteuertes Erntedankfest umfunktioniert. Ab 1949 wurde der 20. August auch noch als "Tag der Verfassung der Volksrepublik" gefeiert. 1988 wurde die "Heilige Rechte" im Rahmen einer Landesprozession wieder ins nationale Bewusstsein gerufen und die Auseinandersetzung mit dieser für die ungarische Identität wichtigen historischen Figur dauert, neu aufgelegt, bis heute an.

Referenzen

Enzyklopädie des Märchens, Bd. 6, Sp. 436-447, hier 441, hier Artikel ¿Hand¿ von Christoph Daxelmüller