Folklore Europaea
ein paar Denkanstöße

Die Suche nach der europäischen Identität führt neben historisch-politischen Überlegungen zwangsläufig immer zu zentralen Fragen der Kultur. Nur durch intensive Auseinandersetzung mit dem gemeinsamen kulturellen Erbe Europas kann die Idee der europäischen Integration vom Bestreben einzelner zur Sache vieler, von der Kopfgeburt zur Herzensangelegenheit, werden. Der Fokus des Diskurses um das Wesen europäischer Kultur sollte indessen nicht allein auf der Hoch- und Elitenkultur liegen, da diese zum einen längst unter zahllosen Aspekten beforscht worden ist und zum anderen auch schon immer transnational und gesamteuropäisch war: Ein Gemälde von Raffael kann man in Rom, Madrid, Paris oder Dresden betrachten, eine Symphonie von Beethoven in Mailand, Wien, Prag oder London hören. Vielmehr sollte sich die Aufmerksamkeit der Forschung genauso auch der traditionalen Popularkultur zuwenden, deren enormer regionaler Formenreichtum leider oft gerade von Bildungseliten noch immer als eine Art quantité négligeable gesehen oder allenfalls als pittoreske Randerscheinung wahrgenommen wird.

Wenn bei internationalen Spitzentreffen der Politik inzwischen Usus geworden ist, zur dekorativen Umrahmung und Empfehlung der Gastgeber noch irgendwo ein lokaltypisches Musikensemble, eine Volkstanzgruppe oder zwei flankierende Trachtenmädchen auftreten zu lassen, so verkennt das die tatsächliche Bedeutung derartiger Phänomene völlig. Die Vorführung von ein paar folkloristischen Versatzstücken wird dem, was Folklore wirklich ist, nämlich eine wichtige identitätsstiftende Kraft und eine Vitalitätsreserve im Leben der Bevölkerung, nicht gerecht. Wie Menschen ihre Traditionen pflegen, wann, wo, was und warum sie feiern, egal ob in hochorganisierten städtischen Repräsentationsformen oder im kleinen dörflichen Rahmen, mit welchen Riten sie Stationen im Jahreslauf und Einschnitte in ihrem Leben markieren – all sind Ausdrucksweisen ihres Daseinsgefühls, ihrer Wertvorstellungen, ihres Glaubens, ihrer Heimatbindung, ihrer Ideenwelt. Gewachsene Formen der Folklore, am dichtesten konzentriert in Festen und Bräuchen unterschiedlichsten Ursprungs und Alters, bestimmen das kulturelle Klima geographischer Räume nicht selten wesentlich nachhaltiger als die Hervorbringungen der Hoch- und Elitenkultur, die oft nur eine vergleichsweise schmale Schicht erreichen.

Für die mit einem breiten Kulturbegriff arbeitende Forschung gehören Feste und Bräuche daher zu den wertvollsten Indikatoren, die ihr zur Verfügung stehen. An eben diesem Paradigma können wie kaum irgendwo sonst Kohärenzen und Divergenzen kultureller Systeme, kann Einigendes und Trennendes innerhalb der europäischen Gesamtkultur und ihrer Teilkulturen studiert werden. Aus der Art und Weise, wie verschiedene Nationen, Regionen und Städte, aber auch Minoritäten oder Majoritäten in gemischtethnischen Räumen ihre Traditionen und Feierformen als vielseitige Ressourcen nutzen, lassen sich Einsichten in fundamentale Funktionsmechanismen gesellschaftlichen Zusammenlebens gewinnen: in die Entstehung und Ausprägung von Mentalitäten, die Konstruktionsmuster von Identität, die Wahrnehmung des Eigenen und des Fremden, den Ablauf von Ethnisierungsprozessen, das Aushandeln der Hierarchien zwischen Hegemonial- und Partialkulturen, das stets latente Spannungsverhältnis zwischen Exklusion und Integration, die Wahrnehmung von Differenz, die Instrumentalisierung von Auto- und Heterostereotypen und vieles andere mehr. Vor allem aber liefern Feste und Bräuche durch ihr Prinzip der regelmäßigen Wiederholung wichtige Erkenntnisse zur Wechselwirkung zwischen Erinnern und Vergessen.

Mit dem von Jan Assmann entwickelten Modell, wonach das kulturelle Gedächtnis die Thementrias „Erinnerung“, „Identität“ und „kulturelle Kontinuierung“ in sich vereinigt, ist es nicht zuletzt auch möglich, dem oft strapazierten Schlagwort vom „gemeinsamen kulturellen Erbe des Abendlandes“ inhaltlich näher zu kommen. Feste und Bräuche als „primäre Organisationsformen des kulturellen Gedächtnisses“ (Assmann) bieten dabei einen besonders erfolgversprechenden Zugang, der in diesem Kontext bislang noch kaum genutzt wurde. Praktisch jedem Fest und jedem Brauch wohnt, um es noch einmal mit anderen Worten zu sagen, ein kommemorativer Kern inne, das Anliegen also, irgendeine für die Gemeinschaft wichtige Erinnerung zu perpetuieren und damit den gemeinsamen kulturellen Horizont zu sichern. Bei religiösen Feiern wie Weihnachten, Ostern, Himmelfahrt, Pfingsten ist dieser Anspruch offensichtlich. Aber auch bei so gut wie sämtlichen profanen Festhandlungen mit regelmäßiger Wiederkehr lassen sich ähnliche Intentionen erkennen. Diese fundamentale Bedeutung von Fest und Brauch als „Kulturträger“ im wörtlichen Sinne wird häufig unterschätzt. Es darf daher keine marginale, sondern muss eine zentrale Aufgabe kulturwissenschaftlicher Forschung sein, eben diesen für den Bestand jedes kulturellen Systems lebens- und überlebensnotwendigen, gedächtnissichernden „Moratorien des Alltags“ (Odo Marquart) verstärkte Aufmerksamkeit zu widmen.

Eine entscheidende Voraussetzung für sinnvolle Forschungen im beschriebenen Rahmen ist der Aufbau einer breit angelegten, komplex strukturierten Datensammlung zur europäischen Brauch- und Festkultur, die rasche Zugriffe auf verlässliche, d. h. nach wissenschaftlichen Kriterien aufbereitete Informationen erlaubt und sie für ethnographische Vergleiche und Analysen verfügbar macht. Hier setzt Folklore Europaea an. Ziel des Projekts mit den darin angelegten, ganz neuen Möglichkeiten der Komparatistik darf freilich nicht etwa die monomane Suche nach Gemeinsamkeiten, sondern muss vor allem auch Benennung von Unterschieden sein: Das langfristige Gelingen europäischer Integration wird nämlich im Endeffekt weniger von der harmonisierenden Betonung kultureller Übereinstimmung als vom ethnologisch fundierten Umgang mit kultureller Differenz abhängen. So verstanden könnte auch die Formel „Unity in diversity“ mit der Zeit von der Phrase zum Programm werden. Folklore Europaea möchte dazu einen Beitrag leisten.